„Diese Pest ist ja nicht die Pest.“
Ein Botschafter in der Tram. Pathos.
„Da kriechen die Ratten nicht aus ihren Löchern und krepieren nicht auf den Bürgersteigen oder in den Treppenhäusern am helllichten Tage. Bei Camus, ja, das war eine richtige Pest: Die Pest kam Schritt für Schritt heran, die Ratten starben sichtbar als blutige Boten des menschlich zu Erwartenden, sie wirkte eine Weile und kam zum Höhepunkt, nahm ab und ging. Die hatte noch benehmen, die Pest bei Camus, die wusste, was für eine ordentliche Pest mit bürgerlicher Schicklichkeit das Richtige ist. Auch einen Helden hatte sie. Einen richtigen Kämpfer – einen Arzt, und was für einen! Diese Pest aber, diese Pest aber, die geht nicht einfach wieder, die ist gekommen, um zu bleiben, um permanent zu wüten. Die weiß sich nicht zu benehmen. Diese Pest hat auch keinen Helden. Diese Viren sind unnatürlich natürlich. Sie sind sozial. Diese Pest ist in den Köpfen. Diese Pest ist digital. Diese Pest ist Video, Audio…ja genau, in Stereo, auf allen Kanälen. Diese Pest zerschneidet Familienbande und Wahrheiten. Sie trennt gedanklich, räumlich und polarisiert in Feind und Freund. Diese Pest ist der Auswuchs des materiellen Prinzips. Vereinsamender kolonialer Kapitalismus, weißgewaschen im Abgrund des Sendungsbewusstseins einiger Institutionen mittels pechschwarzer Philanthropie. Diese Pest macht uns vergessen, dass täglich zweieinhalbtausend Menschen in diesem Land sterben. Sie führt zur Amnesie, wir denken, dass der Tod eine Erfindung dieses Virus sei. Diese Pest ist die Metapher unseres Nichtwissens. Diese Pest ist das Echo, das Echo des ersten Tauschhandels. Das Echo des Sozialabbaus. Pasteur bestätigte auf dem Sterbebett, der Erreger ist nichts, das Milieu ist alles. Diese Pest soll die Pest sein!“
Das interessiert mich hinter meiner Maske. Meine Nase juckt und meine Brille beschlägt. 28 Grad Celsius. Ich würde gerne Niesen, allein, ich traue mich nicht. Einzelne Vermummte starren aus den Fenstern, die anderen auf ihre Smartphones. Alle in Hörweite lauschen dem Botschafter. Auf dem Boden liegen kontaminierte, verlorene einsame Masken, wie tote Ratten.
„Nichtwissen?“, frage ich und denke, der Herr ist in seiner eigenen Welt. Sozusagen. Wie alle anderen auch, oder? Er sprach weiter, ohne mich anzusehen.
„Das Nichtwissen können Menschen nicht ertragen und ihre eigene Charakterbeschaffenheit wollen sie ebenfalls nicht ertragen, nicht mal erkennen, geschweige denn betrachten. Ebenso ihre Endlichkeit nicht akzeptieren und deshalb erfinden sie Geschichten und laufen herum und herum, um im Anderen die eigene Krisis zu verorten und die eigene Verantwortung abzuweisen. In diesen Geschichten erfinden sie ihre Wahrheiten, welche sie bis zu irgendeinem überraschenden Tode verteidigen. Oh, wir sind also sterblich, aber meine Meinung ist doch unerschöpflich!? Und wenn es das Letzte ist, was ich noch tue: Meine Meinung ist Wissen, meine Meinung ist von der Unendlichkeit beseelt. So laufen die Menschen durch die Welt. Der Anspruch dieser ist aber nicht, die Wahrheit zu erkennen und weise zu werden, also sich selbst zu erkennen, wie es am Apollontempel schon vor über 2500 Jahren gemeißelt zu lesen war und jeden der es las, aufforderte, genau das zu versuchen, nein, sie wollen nur ihre Geschichten erzählen, in denen sie die Hauptrolle spielen. Unsere Welt ist voll der Weltenretter, der Wahrheitenverteidiger, jederzeit bereit, dem anderen Menschen die Würde zu rauben…es gibt wahre Sätze, nur wahre Sätze, weißte, nur die, die Wahrheit braucht etwas Seiendes, weißte, etwas Seiendes wird mittels wahrer Sätze beschrieben. Oh, sieh, es regnet!“
Ich sehe. Es regnet nicht. Das merke ich an. Bevor er antwortet, nimmt er einen Schluck aus einer Flasche. Etwas Geistvolles fließt strahlend in ihn hinein, zurück in die Flasche und wieder in ihn hinein. Hin und Her. Einen ewigen Moment der Verzauberung, sehe ich wirklich Bedeutendes.
„Dann war das wohl kein wahrer Satz oder du hast die falschen Erkenntniswerkzeuge. Sinneseindrücke allein reichen nicht aus, der Verstand muss hilfreich dazukommen.“
Meine Haltestelle. Beim Aussteigen nehme ich den Mundschutz ab und rieche den Gestank, der vom Botschafter ausgeht und denke: Nicht Viren töten, es sind die Umstände in denen deren Wirte leben, die töten. Das Milieu sei alles. Viren brauchen Wirte, warum sollten sie diese töten? Ich habe natürlich keine Ahnung, aber auch kein Vertrauen. Mehr Fragen als je zuvor. Wissen ist temporär, denke ich. Menschen und Viren spielen miteinander, nutzen sich gegenseitig und manche Menschen scheinen selbst die Viren zu sein, die ihre Wirte metaphorisch aber doch praxisnah ausbluten, um im richtigen Augenblick zu einem anderen zu wechseln, den vorherigen jedoch sterben lassen. Das können Menschen. Menschen sind in der Lage, sich selbst auszulöschen, andere natürliche Wesen nicht, oder?
Die vermeintlich einzigen Wesen mit Verstand, lieben den Overkill! Ein verlogenes Spiel. Gegeneinander oder miteinander? Jedenfalls sind die Anderen Schuld und so werden wir Bürger dieses Landes um 20Uhr zu maskierten Konsumenten, die ihre Menschlichkeit, ihre Liebe, ihr Vertrauen mittels verbaler und bildhafter Konstruktionen verlieren und die ängstlich schwimmend in einer Welle des alternativlosen Konjunktivs, darüber nachdenken, ob es morgen wieder zu Toilettenpapierknappheit und Mehlmangel kommt, dabei plantschend auf der Woge des Unbewiesenen, hin und her schwappend, wie ein Eiswürfel im Whiskyglas.
Wir lösen uns gerade auf…
Es begann zu regnen. Dieses Mal wirklich.