Nach den Sommerferien im Jahre 1985, Anfang September. Michael ging mit Karsten, seinem zu dieser Zeit besten Freund, in Richtung des örtlichen Freibads. Auf ihrem Weg kamen sie an einem Zaun vorbei, hinter dem sich ein größeres Firmengelände erstreckte. Es war nicht ersichtlich, da einiges an Gebüsch und Bäume gepflanzt, was für eine Firma sich hinter diesem Maschendrahtzaun befand. Für die Dreizehnjährigen war es schlicht ein umzäunter Ort. Die Beiden nahmen diesen Weg oft und hatten entdeckt, dass sich auf dem Gelände zwei Wachhunde befanden. Fasste man den Zaun an und rüttelte daran, dann kamen die beiden Hunde kläffend angelaufen und sabberten und bellten herum, als wären sie im Wahn.
Die Jungen hatten die Hunde einige Male sehr gereizt und sich über die scheinbar dumme Wildheit dieser Kreaturen lustig gemacht. Bei einer der letzten Begegnungen allerdings, war etwas geschehen, was die Jungen aufmerken ließ und sie änderten ihre Strategie. Es gelang ihnen, also eigentlich gelang es Karsten, dass der eine Hund, ein schwarzer, glatthaariger, mittelgroßer Mischling mit Labradormerkmalen, sich streicheln ließ. Nur kurz, doch es gelang. So kam es, dass sie bei den letzten Begegnungen diesen schwarzen Hund immer ruhig und liebevoll ansprachen und ihn nicht mehr ärgerten. Der zweite Hund verlor schnell jedwedes Interesse und haute wieder ab, wenn kein Terror stattfand, dem er sein Gebell draufsetzen konnte.
Dem Schwarzen gaben sie einen Namen: Locke. Locke hatte eine Locke im kurzen Fell, am Hals, daher die Idee zu diesem Namen. Für diesen Tag hatten sich beide Jungen vorgenommen, den Hund mal etwas mehr Zeit zu widmen und durch lange, liebevolle Ansprachen, ihn dafür zu gewinnen, sich streicheln zu lassen. Sie überlegten bevor sie los gingen, ob eventuell ein Leckerbissen für den Hund sinnvoll sei, doch entschieden sie sich dagegen, weil, so die Überlegung, der Hund auf eine eher verbale und herzliche Art zu gewinnen sein sollte und das dann viel mehr Wert habe, als wenn man ihm nur ein Schnitzel hinlege. Mal abgesehen davon, waren Schnitzel zu dieser Zeit auch gar nicht so billig. Beide Jungen waren gespannt darauf, wie sich die Situation entwickeln würde. Sie gingen also am Maschendraht vorbei und riefen Locke.
Als sie ihn bellen hörten und er und der andere angerannt kamen, setzten sie sich auf ihrer Seite des Zaunes auf den Fußgängerweg und warteten ab. Nachdem Locke eine halbe Minute bellte, verstummte er und setzte sich auf sein Hinterteil und blickte in Richtung der Jungen. Der andere Hund drehte sich dreimal im allerkleinsten Kreise und trabte davon.
Michael dachte, irgendwas ist merkwürdig, dieser Zaun, diese Situation. Er dachte, dass man im Leben scheinbar, immer auf einer Seite des Zaunes stand und nicht gleichzeitig auf zwei Seiten stehen konnte.
Nach einigen Minuten streckte Karsten seine Hand aus und griff vorsichtig an den Zaun. Locke schaute sich das an, knurrte, tat aber sonst nichts, wurde wieder still. Er behielt die Jungen im Blick. Karsten sprach leise und fast zärtlich mit dem Hund. Michael tat es Karsten gleich und der Hund reagierte, stand auf und kam näher an Michaels Hand, roch durch den Maschendraht daran und strich mit seiner Schnauze drüber. Die beiden Jungen sahen sich an und lachten leise. Der Hund drückte nun seinen gesamten Körper seitlich an den Zaun, so dass die Jungs ihn berühren und streicheln konnten und das kurz Fell durch die Maschen gedrückt wurde. So vergingen ein paar Minuten. Unerwartet sprang der Hund auf und lief davon. Er schien irgendwo auf dem Gelände etwas gehört zu haben.
„Ey, alter Schwede!, wenn das mal kein Erfolg war. Auftrag erledigt, Locke ist zahm, das ging fast zu schnell, finde ich. Keine große Sache, Mann.“, meinte Karsten.
„Das müssen wir erstmal gucken, ob das auch so bleibt und, ey Karsten, ich habe gezittert, was für ein irres Gefühl, diesen Hund so zahm zu sehen. Stark! Komm lass uns ins Freibad.“
Die Beiden erlebten schöne Stunden im Freibad. Michaels Nachbarin war auch dort und er fand sie wie immer super in ihrem Bikini. Er mochte fast alles am Baden im Freibad, auch vom verbotenem Beckenrand zu springen, nur, ja, genau, nur die Pflicht eine Badekappe zu tragen nicht und wenn man keine eigene dabei hatte, dann musste man eine aus hellblauem Kunststoff kaufen, für 50 Pfennige. Einmal, als er neu war hier, passierte ihm das. Niemals wieder, schwörte er sich, niemals wieder, denn es war so, dass Michael neben vielen seiner anderen Eigenschaften und Einstellungen, auch Eitelkeit in sich trug und die bekam er in diesen Momenten zu spüren.