Stromausfall

Gestern war Stromausfall. Hier im Quartier. Einige Straßenzüge waren betroffen. Nachbarn trafen sich im Treppenhaus und Keller und witzelten, die Russen kämen. Man sah aus dem Treppenhausfenster, jenes mit der toten Fliege zwischen den Scheiben, tat so, als würde man ein Fernglas benutzen und bemerkte trocken, nichts zu sehen, kein Rauch, keine Panzer, kein Russe. Ich sagte, achtet auf den Atompilz in der Ferne und wenn einer zu sehen ist, schnell unter die Tische.

Schon mehr gelacht.

Nach eineinhalb Stunden war er wieder da. Der Strom. Russen zeigten sich nicht, außer denen, die seit vielen Jahrzehnten unsere Nachbarn hier in Deutschland sind. Nachbarn sind die, die nebenan wohnen. Bei uns sind das Menschen aus diversen Ländern. Vielfältige Eintönigkeit (oder eintönige Vielfalt) also: Alles Menschen und doch alle anders und im selben Augenblick gleich.

Vor meiner Tür treffe ich Menschen aus Lettland, Pakistan, Polen, Deutschland, der Ukraine, Indien, Türkei, Russland, Kasachstan, Syrien, Somalia, Ghana, Äthiopien, Serbien, Bayern, Iran…ich lasse die Liste besser unvollständig…

Mein Nachbar aus ehemals Jugoslawien hat die heilige natoverpackte Friedensaktion 1999 miterlebt. Sein Haus in Sarajevo wurde vom Friedensbündnis ganz sanft in Schutt und Asche gelegt. Zwei Familienmitglieder gleich mit. Das ist der Frieden, den wir meinen, wenn wir von der westlichen Idee des Frieden palavern, oder? Ganz groß! Diese Aktion wurde übrigens mit einer Lüge gerechtfertigt. Kriege beginnen wohl immer mit einer Lüge.

Natürlich wissen wir Alle, nur die Waffen derer, die nicht in der Nato sind, töten. Die Nato-Waffen verbreiten was wohl allgemein bekannt sein dürfte, nur Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit. Allerdings bezweifle ich, dass mein Nachbar dies auch so sieht. Mit ihm, sehen das wohl mehr als Zweidrittel der Weltbevölkerung anders.

Aber: Was wissen die schon?!

Wenn ich in den Spiegel schaue, wird ein Deutscher reflektiert. Das ist kein Widerspruch in sich, auch Deutsche können reflektiert werden und manche sich sogar selbst. Laut meiner Frau, reflektiert sich ein typischer Deutscher. Wunderbar konditioniert. Autoritätsgläubig, zuverlässig, dienstbar, arbeitsfreudig, sauber, mülltrennend, kyphotisch und innerlich mit der Lüge verflucht, dass es in Deutschland eine höhere, fast sakrale, Gerechtigkeit gebe, als es diese in anderen Ländern jemals geben könne. Warum? Weil wir eine Verfassung und den Vater Sozialstaat mit mütterlichen Gesundheitssystem und dazu noch, das Bundesverfassungs-Gericht haben. Diese Einrichtungen sind über jeden Zweifel erhaben. Wenigstens im Rahmen der innerlichen verfluchten Lüge, mit der ich aufwuchs.

Natürlich ist dieses Ich auch eine Lüge, eine Fiktion, nur getippte Rhetorik. Der beschriebene Zustand, der dieser, also der innerlichen verfluchten, Lüge zugrunde liegt, ist seit spätestens zweieinhalb Jahren ertrunken. Dennoch hält sich die innerliche verfluchte Lüge in der Bevölkerung so, dass sie noch nicht gänzlich untergeht. Sie sollte ruhig den Kopf hängen lassen und tief einatmen. Die Zeit ist dafür längst gekommen.

Gefährde ich eigentlich mit solchen Texten schon die innere Sicherheit unseres schönen Landes? Oder die, anderer Länder? Wenn es so sein sollte, wäre dies ausgesprochen traurig. Eine politische Gesellschaft, in der Meinungen, seien sie noch so unübersichtlich, die innere Sicherheit gefährden, sind offensichtlich noch nicht erwachsen geworden und gerieren sich, wie trotzige Kinder im Sandkasten, die mit anderen nicht spielen wollen, nur weil diese anderen größer sind, schneller sind oder einfach eine triefende Rotznase haben.

In mir, jetzt mal echt und ehrlich, ist diese Wir-Der-Westen-Sind-Moralisch-Besser-Lüge zerbrochen, als ich vierzehn war. Spätestens! Es war an der Grenze zur DDR. Ein Amerikaner war bei uns, ein Freund meines Stiefvaters. Wo war das noch? Irgendwo in der Nähe von Helmstedt. Mariental, glaube ich. Wir standen an den Grenzsteinen und blickten auf den Zaun und die Türme auf der anderen Seite. Der besagte Herr, er hieß George, lief plötzlich los und wollte so nah wie möglich an den Grenzzaun heran, lief durch das Gras ostwärts. Mein Stiefvater schrie ihm hinterher. George wollte aber nicht anhalten und rief lieber, er sei ein freier Amerikaner und niemand dürfe ihm verbieten, hier auch frei zu sein. Da wurde mir klar, dass diese Art Freiheit, ein Haufen Mist ist. Wenn meine Freiheit bedeutet, dass ich überall die eigenen Regeln verbreiten darf und mich nicht an die Regeln anderer Menschen halten brauche, dann ist das keine Freiheit. George konnte übrigens gerettet werden, bevor geschossen wurde. Ich glaube mich daran zu erinnern, dass ich plötzlich sehr wütend los rannte und mich auf ihn warf. Aus einem Versehen heraus, verpasste ich ihm dabei einen Faustschlag in den Nacken. So rettete ich sein Leben. Zwei Wochen später flog er wieder nach New York und wurde Aktienmillionär. Er schrieb meinem Stiefvater bald einen Brief, in welchem er davon fantasierte, dass er an besagtem Tag einen großen Akt der Völkerverständigung vollzogen hat. Die Herren von der DGP, die Fotos machten, wussten da sicher nichts von.

Mein tätlicher Anteil an dieser Geschichte könnte aber auch Fiktion sein.

Jedenfalls erinnerte ich mich an diese Geschichte, als ich vor einigen Monaten eine Dokumentation über den US-Regisseur John Carpenter sah. Dieser kategorisierte den „US-Amerikaner“, als europäischen, räuberischen Eindringling, der in die Neue Welt eingefallen sei, der das neue Land mit extremer Gewaltausübung gegen Mensch und Tier in Beschlag nahm und es unter sich aufteilte und alles Einheimische unterjochte, tötete, einsperrte oder verbot.

Kriegsattitüde macht müde. Dazu hier noch, zum Abschluss, einige (hochaktuelle) krause fremde Federn:

»Kriegsmüde – das ist das dümmste von allen Worten, die die Zeit hat. Kriegsmüde sein, das heißt müde sein des Mordes, müde des Raubes, müde der Lüge, müde der Dummheit, müde des Hungers, müde der Krankheit, müde des Schmutzes, müde des Chaos. War man je zu all dem frisch und munter? … Kriegsmüde hat man immer zu sein, das heißt nicht nachdem, sondern ehe man den Krieg begonnen hat.«

– Karl Kraus (1874 – 1936)

Ich danke Herrn Kraus für die diese Zeilen. Wäre wirklich schön, wenn die Zuständigen lesen und reflektieren könnten…aber vielleicht sind wir das ja alle…

freundzufreund

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