Kunst! (2013)

Er betrat den Raum und zuckte zusammen, ging zum Mülleimer und erbrach in denselben. Der Körper lag unnatürlich verrenkt auf dem Boden. Ein Bild auf einer Leinwand daneben, abstrakte Malerei, ans Sofa gelehnt. Er besah sich das Bild. Stand da und blickte es an. Das gesamte Bild: Die Leiche. Die Leinwand. Die Fernbedienung. Den Teppich, der rot vom Blut war. Alles war rot vom Blut. Das abstrakte Bild war durch das Blut erweitert worden. Würde sich der Künstler wohl darüber aufregen? Sich über diesen Gedanken wundernd, betrachtete er den toten Körper. Irgendwas fehlt, dachte er, irgendetwas fehlt.

Er ging zum Telefon und wählte die Nummer der Polizei, nahm die Mülltüte aus dem Eimer und verließ die Wohnung. Er stieg in seinen Wagen und fuhr mit Tränen in den Augen los.

Einen Anfang, dachte ich mal wieder, EIN ANFANG! Der Anfang ist das Schwierigste. Die Basis auf die alles weitere folgt. Ein Fundament um darauf ein Haus zu bauen. Wohin könnte er jetzt fahren, dachte ich, wohin fährt ein Mann, der seine Geliebte besuchen wollte und diese tot auffindet? Dinge beenden ist schwierig, dachte ich, aber…

Egal!

Ich musste schmunzeln. Trank einen Schluck starken Kaffee und dachte an die Geschichte über die Geiselnahme von Huckelriede, September 2001. Damals wurde ein Kindergarten samt der Kinder, nicht aber der Mitarbeiter, von drei Radikalen besetzt. Wie die Forderungen aussahen, weiß ich nicht mehr, jedoch kann ich mich entsinnen, dass die festgehaltenen Kinder, die Geiselnehmer nicht gehen lassen wollten, da diese einen unendlichen Schatz an Spielvariationen und Liedern hatten. Es stellte sich heraus, die Geiselnehmer waren Künstler, abstrakte Erscheinungen, hier ein Quadrat und dort ein Kreuz und ein Kreis, eine Performance nackt in schwarz weiß und manchmal auch in Farbe, die der Meinung waren, es müsse so etwas wie ein Erdenbeben durch Deutschland gehen und dieses solle in Bremen beginnen, damit alle Menschen Frei-Denkende würden. Ach so, da war dann ja eine Forderung. Zumindest, so die künstlerischen Geiselnehmer, sollte es jedem Denkenden erlaubt sein, sich zu entfalten, frei von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Normen und Zwangsmechanismen, die Druck und Einfalt und unsoziale Konkurrenz produzieren. So oder so ähnlich.

Die Kinder wurden gut versorgt. Es gab keine Verletzten. Sie aßen Fischstäbchen und Pizza. Biodynamisch. Mutter Erde und Mutter Ozean weise und zärtlich entlockt. Dies verstand sich von selbst, so das humanistische Weltverständnis der geiselnehmerischen Artisten. Die Erwachsenen und hier im Besonderen, die Exekutive, waren jedoch darüber nicht sehr amüsiert, dass Kinder festgehalten wurden. 24 Stunden, an einem Ort, an denen es den Kindern auch noch so gut erging, dass die gar nicht mehr weg oder zurück wollten, die hatten richtig Spaß.

Das machte den anderen, den Eltern und der Polizei, überhaupt keinen Spaß. Irgendwo passierte ein Unglück und die westliche Weltstimmung lag im Keller. Die Geiselnehmer von Huckelriede, also die Künstler, die in einer Kunstaktion dreißig Kinder festhielten, bekamen diese Stimmung zu spüren. Was nur als gerecht zu werten ist, denn: Freiheit ist Freiheit und wenn ich mich dafür entscheide, mich zu knebeln, vorgekaute Meinungen in mich hinein zu stopfen und alles zu glauben, was da auch immer gedruckt, gepostet oder über den Schirm gesprochen und gezeigt wird, ist es immer noch eine freie Willensäußerung meinerseits und das kann man auf alle Menschen übertragen, die sich gerne subtil oder offensiv in der Art eines gedanklichen Gefängnisses einrichten.

Wenn ich jedoch losgehe und andere dazu bringen will, Freiheit zu überdenken und dabei Menschen der Freiheit beraube, auch wenn ich diese gut behandele, ist und bleibt es Freiheitsberaubung und diese muss mit der ganzen zur Verfügung stehenden Härte des Gesetzes bestraft werden. Dies gilt vor allem in diesem Fall, da es sich um Kinder handelte, welche den besonderen Charakter einer sozialen Gemeinschaft noch zu lernen haben und denen sich der Neoliberalismus noch als eine ferne puschelige Wolke darstellt, die zu erreichen einem Traumzustand gleichkäme. Sie wissen noch nicht, dass die Guten die Bösen sind und das umgekehrt ein Schuh daraus wird…

Mit Tränen in den Augen fuhr er los…dunkel die Landstraße, Nebel. Den Baum, eine gemeine Platane, sah er zu spät…

freundzufreund

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