Klang. Ton. Erinnerung.

Als ich heute meinen Nachbar von ganz oben traf, Jahrgang 1942, im hallenden Treppenhaus, bat er mich, ihn kurz in seine Wohnung zu begleiten. Das ist nicht ungewöhnlich, da ich ihm regelmäßig Wasser im Träger kaufe und ihm diese Träger, in die selbige bringe. Wir kommen bei diesen Begebenheiten häufig ins Gespräch. Jedenfalls wollte er mir eingerollte Cent-Münzen schenken. Ich lehnte erst ab, das sei doch nicht nötig, ich hätte selber noch fünf Kilo Münzgeld, usw., spürte jedoch, dass er sich für meine Unterstützung erkenntlich, dankbar zeigen wollte. Eine Geste des Dankes. Das Universum sorgt immer für Ausgleich. Geben und Nehmen. In Einklang gebracht. Einklang…

Klang. Ton. Erinnerung. Feldpost.

Wir kamen ins Gespräch. Sein Vater sei 1944 noch in den Krieg geschickt worden und kam nicht wieder. Es gebe noch die Feldpost. Ob ich altdeutsche Schrift lesen könne. Ja. Der Satz, Fleisch für die Kanonen, ist dort irgendwo zu finden. Wir sollten diesen Satz bald mal suchen. Nicht im Graben, in der Feldpost. Heute etwas anderes…

Er könne sich noch daran erinnern, wie er selbst, seine Mutter und sein älterer Bruder bei Fliegeralarm zum Bunker nach Huckelriede mussten. Eine gepackte Tasche dafür stand immer bereit. Er im Bollerwagen und sein Bruder und seine Mutter gehend, laufend, rennend, ihn ziehend. Er hielt sich arg fest am Bollerwagen. Auch jetzt noch. Zusammengebissene Zähne. Ich kann mir vorstellen, wie er als Kind aussah. Im Bunker habe es dann eine Pritsche gegeben, eine für seine Familie reservierte. Zugewiesene feste Plätze und man hielt sich daran.

Seit einigen Monaten, ungefähr seit dem Satz einer grünen Extremistin über die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung in Deutschland, erinnere er sich oft an diese Zeit. Er höre wieder die Flugzeuge. Die Flugzeuge, die er als Kind hörte und bei deren Klang ihm Angst und Bange wurde, weil er als Dreijähriger bereits wusste, dass die zum Töten und Zerstören kommen und nicht, um Müde aufzuwecken. Kriegsmüdigkeit sei das schlimmste Wort, dass er kenne. Nur die, die nicht in den Krieg ziehen müssten, die, die davon sprächen, dass Krieg zu Freiheit führe, nur die, die behaupten, durch Waffen ließe sich Frieden formen…die und wirklich nur die, sprächen von Kriegsmüdigkeit. Braune Rhetorik. Mehr nicht, nur braune Rhetorik.

Ich musste an einen Text denken. Karl Krauss (1874-1936):

Kriegsmüde – das ist das dümmste von allen Worten, die die Zeit hat. Kriegsmüde sein, das heißt müde sein des Mordes, müde des Raubes, müde der Lüge, müde der Dummheit, müde des Hungers, müde der Krankheit, müde des Schmutzes, müde des Chaos. War man je zu all dem frisch und munter? … Kriegsmüde hat man immer zu sein, das heißt nicht nachdem, sondern ehe man den Krieg begonnen hat.“

freundzufreund

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